
Warum Sardinien?
Italien ist das Land der kulinarischen Vielfalt par excellence. Jede Region steuert ihre eigenen, typischen Lebensmittel oder Weine zur weltberühmten italienischen Küche bei – von der Südtiroler Bresaola über Modenas Balsamicoessig bis hin zu Kapern aus Pantelleria.
Sardinien spielt in diesem Konzert der lukullischen Genüsse eine besondere Rolle. Das hat naturgeschichtliche und historische Gründe. Die Insel liegt zwischen den spanischen Balearen im Westen, der tunesischen Küste im Süden, dem nahen französischen Korsika im Norden und der relativ weit entfernten italienischen Halbinsel im Osten. Im Laufe der vergangenen drei Jahrtausende haben alle umliegenden Mächte die Insel zu beherrschen versucht – aus strategischen Gründen und um die Bodenschätze auszubeuten. Trotzdem war das direkt vor der europäischen Haustür gelegene Sardinien bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als weit entfernte Kontinente bereits vermessen waren, noch weitgehend unerforscht.

Sardinien ist die zweitgrößte Insel des Mittelmeers – ein „kleiner Kontinent“, wie die Sarden sagen, um ihre Eigenständigkeit zu betonen. Sie unterscheidet sich erdgeschichtlich weitgehend von der Entwicklung in den benachbarten Gebieten, weshalb sich Ihr Erscheinungsbild deutlich von den spitz gezackten Bergen Korsikas abhebt: Von der Erosion rundlich abgeschliffene Erhebungen, Hochplateaus, die eine lang vergangene vulkanische Tätigkeit bezeugen, gewaltige Kalkmassive mit Grotten und unterirdischen Flussläufen und zahlreiche Binnenseen im Küstengebiet prägen die nur dünn besiedelte Landschaft. Mit rund 1,6 Millionen Einwohnern und in einer Insellage ist Sardinien kein besonders attraktiver Binnenmarkt. Doch gerade dies erweist sich als Glücksfall, denn Industrie hat sich bis heute nur an sehr wenigen Punkten angesiedelt. Dadurch und dank der ständigen Luftbewegung des Meeresklimas zeichnet sich Sardinien durch saubere Luft und geringe Umweltbelastung aus.
Die Anfänge der sardischen Geschichte reichen bis in die Bronzezeit zurück. Davon zeugen bis heute die vielen gewaltigen, rund 3000 Jahre alten Nuraghen: Turmbauten, die in der großartigen, weitläufigen Urlandschaft Sardiniens stehen und dem Reisenden oft einen seltsamen Eindruck von Zeitlosigkeit vermitteln. Die Nuraghenkultur war eine der ersten bedeutenden Kulturen des Mittelmeerraumes, die unter anderen mit der minoischen Kultur auf Kreta Handel trieb.
Den Untergang dieser originär sardischen Kultur leiteten die Phönizier ein, die ab 800 v. Chr. von Nordafrika her kamen, nicht zuletzt um im Sulcis Erz abzubauen. Es folgten die Punier und Römer, Byzanz, Pisa und Genua sowie schließlich Aragon und Spanien, die Sardinien weit über 300 Jahre lang beherrschten. 1720 wurde die Insel dem Haus Savoyen aus dem Piemont zugesprochen – zusammen mit dem seit dem 13. Jahrhundert bestehenden Titel „König von Sardinien“. Alle diese sich über die Jahrhunderte ablösenden Kolonialmächte haben ihren Einfluss auf die sardische Kultur ausgeübt. Es gleicht einer Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet das nie wirklich unabhängige Königreich Sardinien 1861 bei der Einigung des Königreichs Italien eine grundlegende Rolle gespielt hat.
Die Geschichte Sardiniens ist somit in vieler Hinsicht vom Verlauf auf dem italienischen Festland abgewichen, und dieser Unterschied ist noch immer deutlich spürbar. So unterscheiden sich sardische Küche und Weinlandschaft von der festländischen in vielen Punkten: Fregola (kleine, kugelförmige, auch geröstete Pasta), Bottarga (getrockneter Fischrogen), Abamele (Sud aus Honigwaben und Zitruszesten) und Rebsorten wie Cagnulari, Monica, Nuragus usw. gibt es im übrigen Italien nicht.
Nun sind allerdings weite Teile der Insel, vor allem im Inneren, nur sehr schwer zugänglich und schwierig zu nutzen. Zudem haben die Sarden in diesen unwegsamen Gebirgsregionen allen Eindringlingen stets einen zähen und stolzen Widerstand entgegengesetzt. So mussten sich die Besatzer im Allgemeinen mit der Kontrolle der fruchtbaren Ebenen und der strategisch wichtigen Häfen an der Küste begnügen.
Das Landesinnere, das sich hartnäckig der Kontrolle entzog, wurde von den jeweiligen Herrschern abfällig „Barbagia“ genannt: das Land der Barbaren. Es ist weitgehend eigenständig und unbeeinflusst geblieben, und so hat sich eine Hirtenkultur erhalten, die sich in engstem Kontakt mit einer oft rauen und strengen Natur durchsetzen muss und deren Wurzeln in archaische Zeiten zurückreichen. Sardischer Pecorino und Caprino gehören zu den besten und authentischsten Produkten der Insel.
In diesem Spannungsfeld – zwischen verschiedenen kulturellen Einflüssen von außen und der authentischen Hirtenkultur im Landesinneren – hat sich die ganz besondere sardische Kultur entwickelt. Sie ist keine verfeinert-höfische, sondern eine ländlich-bäuerliche Kultur, die gleichwohl in die Stadt hineinreicht. Sie bewahrt Elemente aus all den vielen, so unterschiedlichen Kulturkreisen in ihrem Gedächtnis – so z.B. in der sardischen Sprache. Auch der traditionelle sardische Goldschmuck ist ebenso feingearbeitet und unverwechselbar wie die vielen verschiedenen, mit größter Sorgfalt hergestellten Brotsorten. Raffiniert ist diese ländliche Kultur aber vor allem in der Verflechtung ihres engen Bezugs zur Natur mit selbstbewusster, unbeirrbarer Tradition – und im klugen Umgang mit den gegebenen Ressourcen.
Durch die letztlich vergebliche, aber Jahrtausende währende Abwehr immer neuer, übermächtiger Besatzer bildeten die Sarden einen ausgesprochen konservativen, ja misstrauischen Charakter aus. Den vermeintlichen Segnungen des Fortschritts begegnen sie mit großer Skepsis, was gelegentlich altmodisch wirken kann. Sie halten am „Alten“ jedoch auch deshalb mit großer Zähigkeit und Eigensinn fest, weil es das „Eigene“ darstellt. Dieses Festhalten an überlieferten Werten kommt den altbewährten Methoden in der Wein- und Lebensmittelbereitung zu Gute. Denn gerade hier dient das „Neue“ oft nicht unbedingt der Verbesserung und höherer Qualität, sondern vor allem der Kommerzialisierung durch Vereinfachung des Produktionsprozesses, wachsende Quantität, Gewinnmaximierung usw. Sardinien hingegen produziert wenig, aber gut.
Das liegt zum einen am ländlich-sardischen Ideal der autarken Bauernfamilie: Man wollte so wenig wie möglich kaufen, so viel wie möglich selbst produzieren. Wer aber aus eigenem Korn sein eigenes Brot backt und die eigene Pasta macht, wer Wein aus eigenen Trauben keltert und die Salumi aus eigener Schlachtung kennt, verfügt über eine gewisse Kompetenz. Die Sarden sind deshalb außerordentlich wählerisch und anspruchsvoll, was Essen und Trinken angeht. Sie wissen, was gut ist und verzichten lieber, als minderwertige Ware zu kaufen.

Zum anderen ist Sardinien kein freigiebiges, sondern ein karges, von starken Winden durchtostes Land. Manche Landstriche ähneln geradezu einer Steinwüste, weite gebirgige Teile eignen sich nur als Tierweiden (Pastorizia), und selbst in den Ebenen ist die Landwirtschaft eher traditionsbewusst und kleinteilig. Doch das wenige, das dieses Land hervorbringt, ist geschmacksintensiv. Eine kleine sardische Orange schmeckt viel aromatischer als die meisten großen, makellosen Plantagenorangen anderer Herkunft. Die Weine aus den Weingärtchen mit „a Palmetta“-Anbau (ohne Spalier) sind konzentrierter als jene von ertragreichen Anlagen in Oberitalien. Hier gilt – wie so oft: Weniger ist mehr.
Die fest in Ursprünglichkeit und tradierten Werten verwurzelte kulinarische Tradition Sardiniens ist deshalb alles andere als rückständig, sondern vermag überraschend einfache und überzeugende Antworten auf die Wünsche und Bedürfnisse der heutigen, in einer hochtechnisierten Industriegesellschaft lebenden Menschen zu geben. Antworten, die sich überall dort, wo es im Wein- und Feinkosthandel gilt, sich von beliebiger Massenware abzuheben, empfehlen:
Darum Sardinien!